Prof. Dr. Erdal Yalcinordnet die wirtschaftspolitische Ausgangslage für die am Sonntag anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei ein. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Konstanz und forscht am IfW Kiel zum Thema Handelspolitik: 

„Die Türkei steht vor einer historischen Wahl, die auch das Verhältnis zur Europäischen Union (EU) maßgeblich beeinflussen wird. Sollte Kemal Kilicdaroglu, der Kandidat des Oppositionsbündnisses (Millet İttifakı), neuer Präsident werden, steht er vor der Mammutaufgabe, das politische System des Landes wieder funktionsfähig zu machen und verlässliche Wirtschaftsbeziehungen in Europa und der Welt aufzubauen. Dabei wird er auf die Unterstützung der EU angewiesen sein. Die Frage ist, ob die Staatengemeinschaft politisch in der Lage ist, der Türkei wieder eine EU-Perspektive als stabilisierenden Anker zu bieten. Sollte es zu keinem politischen Führungswechsel kommen, drohen der Türkei weitere wirtschaftlich schwierige Jahre.

Unter Präsident Recep Tayip Erdogan (AKP, Adalet ve Kalkınma Partisi) hat die Türkei in den letzten 20 Jahren zwei sehr unterschiedliche Jahrzehnte erlebt. Die großen wirtschaftlichen Fortschritte zu Beginn des Jahrtausends – das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 3.000 US-Dollar im Jahr 2001 auf über 12.000 US-Dollar im Jahr 2013 – verdankte die Türkei unter anderem der stetigen Integration in die europäischen Produktionsnetzwerke. Auch politisch hat sich das Land durch demokratische Reformen der EU angenähert.

Diese positiven Entwicklungen haben mit den Gezi-Park-Protesten und der autoritären Reaktion Erdogans im Jahr 2013 ein jähes Ende gefunden. Mit zunehmender politischer Unsicherheit und der Einführung eines absoluten Präsidialsystems ab 2018 ist die Türkei in eine schwere wirtschaftliche Abwärtsspirale geraten. Die türkische Lira hat zwischen 2013 und 2023 gegenüber dem US-Dollar stark an Wert verloren. Entsprechend gehört die Türkei zu den Ländern mit der höchsten Inflation, die teilweise bei über 100 Prozent pro Jahr liegt. Eine Mehrheit der Bevölkerung erlebte in den letzten Jahren eine massive Verarmung, das Pro-Kopf-Einkommen lag 2021 wieder unter 10.000 US-Dollar.

Ursächlich hierfür sind nicht nur die innenpolitischen Spannungen, sondern auch die sehr negativen Beziehungen mit dem Ausland, insbesondere mit der EU. Es fließen kaum nennenswerte Direktinvestitionen in die Türkei, die politischen Beziehungen sind auf ein Minimum reduziert.

Viele Menschen in der Türkei hoffen, dass mit einem Politikwechsel am Sonntag die Weichen für eine erneute wirtschaftliche Integration in Europa gestellt werden – eine Hoffnung, die auch in vielen EU-Mitgliedstaaten geteilt werden dürfte. Der Ausgang der Wahlen ist indes schwer zu prognostizieren, insbesondere was das Ergebnis der Parlamentswahlen für eine mögliche Stichwahl um das Präsidentenamt bedeuten könnte.“ 

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