Traditionelle Datenerhebungsformen wie beispielsweise Befragungen bieten diesen „Echtzeitfaktor“ nicht. Dies liegt daran, dass sie lange Vorlaufzeiten für ihre Vorbereitung, Durchführung und Auswertung benötigen. Andere Datenquellen wie etwa Bilanz- oder Bonitätsdaten sind ebenfalls wichtige Indikatoren. Doch auch sie haben den Nachteil, dass sie die Auswirkungen einer Krise erst dann widerspiegeln, wenn der ökonomische Schock seinen vollen Wirkungsgrad bereits erreicht hat und sich dies in der Zahlungsdisziplin und den Unternehmensbilanzen materialisiert.
Gerade in der Coronakrise, in welcher die Politik schnell reagieren musste, gleichzeitig jedoch einem großen Informationsdefizit bezüglich der ökonomischen Auswirkungen der Pandemie gegenüber stand, sind Auswertungen auf Basis des Internets ein wertvolles Instrument zur zielgerichteten Gestaltung von frühen Hilfsmaßnahmen für die Unternehmen. Traditionelle Datenerhebungsformen und Datenquellen haben dagegen den Vorteil, dass sie den Detailgrad eines Schocks differenzierter erfassen können und zudem eine Analyse der tatsächlichen Materialisierung der Auswirkungen erlauben – allerdings mit deutlicher zeitlicher Verzögerung. Zur Verbesserung der Informationslage bei Wirtschaftskrisen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt und um staatliches Handeln im Krisenfall möglichst zielgerichtet und zeitnah in Gang zu bringen und im Krisenverlauf kontinuierlich weiter optimieren zu können, empfehlen die ZEW-Wissenschaftler ein Rahmenwerk von Maßnahmen. Dieses kombiniert unterschiedliche Datenquellen zur Erfassung der ökonomischen Auswirkungen einer Krise. Am Anfang steht die zeitnahe Auswertung einer Vielzahl von Unternehmenswebseiten zur schnellen Verbesserung der Informationslage. Es folgt zu einem nachgelagerten Zeitpunkt die Optimierung und Ergänzung dieser Informationen durch Befragungen ausgewählter Unternehmen, wobei die Erkenntnisse aus der Webseitenanalyse in die Ausgestaltung der Befragungen einfließen.
„Dass dieses Rahmenwerk zuverlässige Ergebnisse liefert, die prognostische Aussagekraft haben, zeigt ein nachgelagerter Blick auf die Bonitätsdaten der beobachteten Unternehmen“, erklärt Julian Dörr vom ZEW-Projekt Team, das die Untersuchung durchgeführt hat. So weisen die ZEW-Wissenschaftler nach, dass die Ergebnisse der Webanalyse durchaus als Frühindikatoren bezüglich der Bonitätsveränderungen der Unternehmen im späteren Verlauf der Krise dienen können. Informationen aus automatisiert ausgewerteten Web-Massendaten versprechen somit einen relevanten Mehrwert für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger. Insbesondere in dynamischen Krisensituationen kann die KI-basierte Webanalyse traditionelle Erhebungsmethoden ergänzen und aktuelle sowie zuverlässige Frühprognosen liefern.
Zukünftig wollen die ZEW-Wissenschaftler insbesondere an der Interpretierbarkeit ihrer KI-Modelle arbeiten („Explainable AI“). „In den vergangenen Jahren hat das Bewusstsein zugenommen, dass Systeme der künstlichen Intelligenz in bestimmten Kontexten keine Blackbox sein dürfen. Stattdessen sollen deren Ergebnisse interpretierbar, fair, transparent und nachvollziehbar sein. Gerade vor dem Hintergrund, dass politische Entscheidungen zunehmend auf den Ergebnissen von KI-Modellen beruhen werden, müssen diese Ergebnisse alle diese Kriterien erfüllen“, stellt Dr. Jan Kinne fest, ZEW-Ökonom und Mitgründer des Startup-Unternehmens ISTARI.AI. Es wäre beispielsweise relevant zu wissen, welche Wörter und Wortkombinationen ein besonders hohes Gewicht bei den Vorhersagen haben. Gleichzeitig gibt es allerdings auch Argumente, die für eine Blackbox sprechen, wenn man bedenkt, dass diese schwieriger zu manipulieren ist als ein offenes, vollständig transparentes System.
Das ZEW in Mannheim forscht im Bereich der angewandten und politikorientierten Wirtschaftswissenschaften und stellt der nationalen und internationalen Forschung bedeutende Datensätze zur Verfügung. Das Institut unterstützt durch fundierte Beratung Politik, Unternehmen und Verwaltung auf nationaler und europäischer Ebene bei der Bewältigung wirtschaftspolitischer Herausforderungen. Zentrale Forschungsfrage des ZEW ist, wie Märkte und Institutionen gestaltet sein müssen, um eine nachhaltige und effiziente wirtschaftliche Entwicklung der wissensbasierten europäischen Volkswirtschaften zu ermöglichen. Durch gezielten Wissenstransfer und Weiterbildung begleitet das ZEW wirtschaftliche Veränderungsprozesse. Das ZEW wurde 1991 gegründet. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Derzeit arbeiten am ZEW Mannheim rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen rund zwei Drittel wissenschaftlich tätig sind.
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