Nach langen coronabedingten Lockdowns erwacht die deutsche Wirtschaft nach und nach aus ihrem Winterschlaf. Da immer mehr Menschen geimpft sind und die Infektionszahlen fallen, können viele Branchen wieder auf einen normaleren Geschäftsbetrieb hoffen, allen voran die gebeutelten DienstleisterInnen etwa in der Kultur- und Veranstaltungsbranche und die Reiseveranstalter. Die Industrie, die besser durch die vergangenen Monate kam als während des ersten Lockdowns im Vorjahr, wird hingegen durch die sich zuspitzende Knappheit von Rohstoffen und anderen Vorleistungsgütern gebremst. Dennoch erwarten die KonjunkturforscherInnen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) mit 3,2 Prozent für dieses und 4,3 Prozent für nächstes Jahr ein etwas höheres Wachstum der hiesigen Wirtschaftsleistung als noch im Frühjahr.
Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weg bis zur Bewältigung der Pandemiefolgen weit ist und immer wieder mit Rückschlägen gerechnet werden muss. Bis zum Jahresende werden seit Beginn der Corona-Krise in Deutschland rund 230 Milliarden Euro an Wertschöpfung verloren gegangen sein. Bezieht man mit ein, dass die Wirtschaftsleistung ohne die Pandemie in diesem Zeitraum wahrscheinlich um etwa zweieinhalb Prozent gewachsen wäre, summiert sich der Gesamtschaden sogar auf etwa 350 Milliarden Euro – rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Indirekte Pandemiefolgen wie Rohstoffknappheit gewinnen an Bedeutung
Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt vorerst durch die Corona-Pandemie bestimmt. Zum einen muss davon ausgegangen werden, dass die Infektionszahlen im Zuge der Lockerungen und möglicher neuer Virusmutationen zumindest regional und vorübergehend wieder steigen. Neuerliche Einschränkungen, um das Pandemiegeschehen unter Kontrolle zu halten, sind dann zu erwarten. Hinzu kommt, dass zunehmend Pandemiefolgen eine Rolle spielen, die nicht unmittelbar auf das Infektionsgeschehen zurückzuführen sind: Zum einen ist die Förderung und Produktion wichtiger Rohstoffe in der Pandemie heruntergefahren worden, weshalb die nun rasch anziehende Nachfrage nicht direkt bedient werden kann. Zum anderen hat sich die Nachfrage teils drastisch verschoben. So sind beispielsweise im Zuge des Digitalisierungsschubs Halbleiter in der Elektroindustrie sehr gefragt und fehlen nun in der Automobilproduktion.
Kurzfristig profitiert die deutsche Exportwirtschaft zwar von der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Diese wird vor allem vom Boom in den USA angetrieben, der über die schwächelnde Erholung in einigen Schwellenländern hinwegtröstet. Doch neben immer wieder aufflammenden Infektionsherden wie zuletzt in Indien wird auch die Weltwirtschaft durch den Rohstoffmangel eingebremst. Dieser kann einiges nach sich ziehen: Preise und Produktionskosten für die Unternehmen steigen, was deren Gewinnmargen drückt. Kleine Unternehmen können sich gegen derartige Entwicklungen kaum absichern. Da die Eigenkapitaldecken vieler Unternehmen im Zuge der Pandemie ohnehin dünn geworden sind, drohen Insolvenzen. Vielerorts ist die Investitionstätigkeit zurückgeworfen worden, was die Innovationskraft und künftige Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Ohnehin ist für die kommenden Monate mit mehr Insolvenzen und Geschäftsaufgaben zu rechnen. Im vergangenen Jahr war die Insolvenzmeldepflicht ausgesetzt und die Zahl der eröffneten Verfahren für eine Rezession untypisch gering. In den nächsten Monaten werden viele Unternehmen wohl doch noch den Weg zum Amtsgericht antreten müssen.
Dies könnte den Arbeitsmarkt noch merklich belasten. Bis dato ist er aber gut durch die Krise gekommen: Vor allem aufgrund der umfangreichen Inanspruchnahme von Kurzarbeit dürften viele Beschäftigungsverhältnisse erhalten worden sein. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung dürfte wieder steigen und die Arbeitslosenquote auf nur noch 5,1 Prozent im kommenden Jahr sinken – fast ein Prozentpunkt oder mehr als 350 000 Arbeitslose weniger als noch im vergangenen Jahr. Das hilft dem privaten Konsum, der auch durch die im Prognosezeitraum insgesamt moderate Inflation gestützt wird. Diese wird mit 2,7 Prozent in diesem Jahr zwar vorübergehend höher ausfallen, schon im nächsten Jahr aber wieder auf 1,8 Prozent sinken, sodass es keinen Grund zur Sorge vor gesamtwirtschaftlichen Gefahren durch stark steigende Preise gibt.
Voreilige Rückkehr zu ausgeglichenen Haushalten würde Schaden anrichten
All das steht aber auf wackligen Beinen, solange die Corona-Pandemie nicht nachhaltig eingedämmt ist. In dieser Situation schon bald zu ausgeglichenen öffentlichen Haushalten zurückzukehren, wäre nach Ansicht der DIW-KonjunkturforscherInnen verfrüht – trotz eines gesamtstaatlichen Defizits von knapp 161 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Denn neben den Pandemiefolgen sind auch strukturelle Veränderungen wie die demografische Wende und der Umbau zu einer klimaschonenderen Wirtschaft zu bewältigen. Ohne Innovationskraft und Investitionen ist dieser Wandel nicht zu bewältigen. Staatliche Impulse für privatwirtschaftliche Aktivitäten im Bereich der Forschung und Entwicklung und öffentliche Bildungsinvestitionen sind wichtig, um das Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft zu erhöhen. Die beschlossenen Schritte im Rahmen des Zukunftspakets können angesichts der immensen Herausforderungen nur ein erster Schritt gewesen sein.
Kurz gesagt
Marcel Fratzscher, DIW-Präsident: „Die deutsche Wirtschaft wird voraussichtlich einen guten Sommer erleben, aber sie ist noch nicht über den Berg. Rückschläge sind jederzeit möglich, vor allem ab dem Herbst. Die Politik muss sich jetzt vorbereiten, um vergangene Fehler wie eine unklare Kommunikation und eine teils nicht transparente Vorgehensweise dann nicht zu wiederholen. Diese Fehler haben viel Unsicherheit ausgelöst, und Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft. Der bevorstehende Wahlkampf und so manche Forderungen und Ansichten sollten nicht in die Irre führen. Es wäre beispielsweise nicht angemessen, jetzt auf einer schnellen Rückkehr zur schwarzen Null zu beharren. Und es ist unredlich, vor der angeblich großen Inflation zu warnen. Bislang gibt es keine Signale, dass die Inflation anders als von uns prognostiziert auch im nächsten Jahr überdurchschnittlich ausfällt.“
Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef: „Spät, aber dafür umso schwungvoller erwacht die deutsche Wirtschaft aus ihrem coronabedingten Winterschlaf. Insbesondere die Dienstleistungsbereiche dürften jetzt von den Lockerungsmaßnahmen profitieren. Allerdings werden mit den Öffnungen die Menschen auch wieder mehr Kontakte haben, was wieder zu steigenden Inzidenzen führen dürfte – und damit die Erholung in die Länge zieht. Hinzu kommt, dass wir mehr und mehr Folgen der Pandemie zu spüren bekommen, die nicht direkt auf den Infektionsschutz zurückzuführen sind. Derzeit ist das allen voran der Rohstoffmangel, der vielen Unternehmen wegen steigender Kosten zu schaffen macht.“
Simon Junker, Experte für die deutsche Wirtschaft: „Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich bisher als äußerst krisenresistent erwiesen. Die Kurzarbeit, die bereits in der Finanzkrise ein Rettungsanker war, ist auch dieses Mal wieder ein Erfolgsmodell gewesen. Die Arbeitslosenquote dürfte nach fast sechs Prozent im vergangenen Jahr auf nur noch etwas mehr als fünf Prozent im kommenden Jahr sinken. Damit liegt sie dann fast schon wieder auf dem Vorkrisenniveau von 2019.“
Geraldine Dany-Knedlik, Expertin für die Weltwirtschaft: „Das erneute Aufflammen der Pandemie und damit verbundene Restriktionen haben die Wirtschaft insbesondere in Europa und Japan zu Jahresbeginn ausgebremst. Für die zweite Jahreshälfte zeichnet sich ein zweigeteiltes Bild ab: Während die fortgeschrittenen Volkswirtschaften einen kräftigen Aufschwung erleben dürften, werden die Schwellenländer zunächst weiter mit den wirtschaftlichen Auswirkungen des Virus zu kämpfen haben. Alles in allem bleibt unsere Prognose für die Weltwirtschaft nahezu unverändert. In diesem Jahr gehen wir von einem Wachstum von 6,7 Prozent aus, im kommenden Jahr dürfte das Plus bei 4,9 Prozent liegen.“
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