Drei neu entdeckte Cyanobakterienarten erweitern die ungeahnten Potentiale in extremen Lebensbedingungen zu überleben. Wissenschaftler aus Kaiserslautern spürten die Mikroorganismen zwischen der Arktis und der Atacama Wüste auf. Damit wird nicht nur das Spektrum der Artenvielfalt erweitert, sondern auch eine potentielle Anwendung in der Bioökonomie ermöglicht, wie sie zur Lösung globaler Probleme wie Klimaschutz oder Arzneimittelforschung zum Einsatz kommt.

Photosynthetisch aktive Einzeller bezeichnet man konventionell als Algen – doch diese scheinbar einfache Begrifflichkeit trügt. Heutzutage versteht man darunter eine Art Planstelle, die ein Organismus in der Natur erfüllt. Fachleute sprechen auch von der sogenannten ökologischen Nische, die ein Organismus besetzt. Je spezieller diese Nische besetzt wird, umso eher entstehen morphologische oder physiologische Besonderheiten im Laufe der Evolution – es spezialisieren sich neue Arten (Spezies). Auch bei den Algen fand diese Evolution im Wasser und auf dem Land statt. Daher finden sich Algen inzwischen überall im Stammbaum der Evolution verteilt und betiteln schon lange nicht mehr ein spezielles Lebewesen. Dieses Umdenken hat die Wissenschaft allen voran den Blaualgen zu verdanken, denn diese zählen wie der frühere Name unterstellt, heute zu den Bakterien, genauer genommen den sogenannten Cyanobakterien. Diesen ursprünglichsten Organismen fehlen nämlich ein echter Zellkern und Kompartimentierungen, die echte Algen besitzen. 

Bereits in mehr als 1.5 Milliarden alten Gesteinen lassen sich Spuren von Cyanobakterien nachweisen, denn schon in der Frühzeit der Atmosphärenbildung unserer Erde sorgten ausschließlich Cyanobakterien für die Anreicherung von Sauerstoff durch ihre photosynthetische Aktivität, lange bevor es Algen und Pflanzen gab. Dementsprechend lange hatten Cyanobakterien Zeit die verschiedensten Ökosysteme unserer Erde zu besiedeln und Anpassungen zu erwerben, die sich in einer einzigartigen Formenvielfalt widerspiegeln. Sie lieben es extrem und sind daher besonders häufig in Wüsten anzutreffen, man hat bestimmte Arten aber auch in den Hohlräumen von Haaren von Eisbären gefunden, sowie in sauren, heißen Quellen oder als sogenannten Algenblüten auf den Weltmeeren, in Flüssen und Seen. Weltweit können ihre unwahrscheinlich zahlreichen Arten nur von wenigen Experten unterschieden werden, deren Arbeiten umso wichtiger sind, da Cyanobakterien Bestandteil verschiedenster wissenschaftlicher und anwendungsbasierter Forschungs- und Entwicklungsrichtungen sind.

Das Auffinden und Beschreiben von drei bemerkenswerten neuen Cyanobakterienarten ist nun einem Forscherteam um den Wissenschaftler Dr. Patrick Jung (Hochschule Kaiserslautern) gelungen. Eine der drei neuen Arten fällt in eine Gattung, die ein unter Bakterien ungewöhnliches Merkmal aufweist: Einen orangefarbenen Augenfleck, der eigentlich nur von anderen Algengruppen bekannt ist und zur Wahrnehmung von Lichtquellen dient. Die Gattung wurde auch nach diesem Merkmal Oculatella benannt. „Seine genaue Funktion sowie die Zusammensetzung dieses Augenflecks ist in Cyanobakterien noch unerforscht“, so Dr. Patrick Jung. Ungewöhnlich sei auch, dass die Gattung zwar bereits elf andere Spezies umfasst, diese aber alle ausschließlich aus Mediterranen Gefilden stammen. Die neue Art Oculatella crustae-formantes wurde allerdings aus Bodenkrusten (crustae-formantes = Kruste bildend) aus dem Arktischen Spitzbergen isoliert und vergrößert damit die ökologische Amplitude, also das Verbreitungsgebiet der kompletten Gattung.

Die zweite neubeschriebene Art gehört zur Gattung Aliterella, die einzellige Cyanobakterien umfasst, die erst kürzlich entdeckt wurde und nun vier Arten enthält. Ungewöhnlich ist, dass die neue Art Aliterella chasmolithica aus Spalten in Gestein (chasmolithica = in Gesteinsspalten lebend) aus der Atacama Wüste isoliert wurde und damit die einzige Art innerhalb der Gattung ist, die Gestein besiedelt während die anderen aus dem Meer stammen.

Der Zungenbrecher Cyanocohniella crotaloides, die dritte neubeschriebene Art, zeigt den außergewöhnlichsten Lebenszyklus aller bekannten Cyanobakterienarten. Innerhalb weniger Tage wechselt sie mehrmals ihre Gestalt, was selbst alteingesessene Cyanobakterienkenner in Staunen versetzt, denn dadurch gleicht ein und dieselbe Art mehreren anderen Cyanobakterienarten. „Es gab Kollegen, die mir nicht glauben wollten, dass das die gleiche Art ist. Die unterschiedlichen Entwicklungsstadien wurden für Verunreinigungen mit anderen Cyanobakterienarten in der Probe gehalten“ so Dr. Patrick Jung. Das auffälligste Stadium gleicht der Rassel einer Klapperschlange, weswegen die neue Art Cyanocohniella crotaloides genannt wurde (crotaloides = Klapperschlangenähnlich). In der Gattung gibt es nur eine weitere Art, die aus heißen Quellen über 55°C aus Tschechien isoliert wurde, wohingegen die neue Art vom Strand der Insel Schiermonnikoog aus Holland isoliert wurde und damit die geglaubte Hitzetoleranz der Gattung in Frage stellt.

„Das Wissen um Cyanobakterien ist nach wie vor sehr begrenzt, aber für viele Forschungsdisziplinen unabdingbar, sodass uns das Verständnis um die Ausbreitung bestimmter Gattungen und deren Spezies enorm weiterhilft. Im Zuge des Klimawandels werden sich Ökosysteme stark verändern und es werden Arten aussterben, die wir heute nicht einmal kennen – und damit verbunden deren für uns nutzbares biotechnologisches Potential. Am Grenzbereich von Inseln, den Polen und Wüsten wird dies zuerst geschehen“, so Dr. Patrick Jung.

Nachdem der Artikel jetzt in der internationalen Fachzeitschrift Journal of Phycology erschienen ist, sind alle drei Arten Teil der Cyanobakterien Kulturensammlung der Hochschule Kaiserslautern am Standort Pirmasens um Dr. Michael Lakatos. Im EU-Projekt „Photoproma“ wird zukünftig das biotechnologische Potential der drei neuen und zahlreicher anderer Cyanobakterien Arten erforscht.

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