Von Vincent Mortier, Group CIO Amundi und Alessia Berardi, Head of Emerging Markets Macro Strategy beim Amundi InstituteIndiens langfristige Wachstumsgeschichte ist Investoren nicht verborgen geblieben, doch der eingeschränkte Marktzugang und eine Reihe von Unwägbarkeiten haben viele von ihnen bislang von einem Engagement abgehalten. Das dürfte sich ändern. Denn Indien ist nicht nur seit kurzem das bevölkerungsreichste Land der Welt – es kann auch auf eine Reihe von Faktoren verweisen, die für eine weitere positive Entwicklung sprechen. Für den Marktzugang gibt es inzwischen verschiedene Optionen, und die Risikofaktoren stellen sich als überschaubar dar. Unserer Meinung nach ist es an der Zeit, dass westliche Anleger Indien genauer ins Visier nehmen.Globale Konjunktur-Lokomotive?Kann Indien sich zu einer globalen Konjunktur-Lokomotive entwickeln? Die jüngsten Marktturbulenzen und innenpolitische Entwicklungen im Land haben den allgemeinen Optimismus etwas gedämpft, doch mittel- bis langfristig sollte Indiens Einfluss auf der geopolitischen Bühne zunehmen: Das Land unterhält enge Beziehungen zu verschiedenen großen Volkswirtschaften und sollte davon profitieren können, dass der Westen sich aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China lösen möchte.Im Exportsektor lässt sich das heute schon nachvollziehen. Indiens Anteil an den weltweiten Exporten ist gemäß Daten der indischen Regierung von stagnierenden 1,6 % im letzten Jahrzehnt auf 1,85 % in den letzten zwei Jahren gestiegen. Mittelfristig werden die Sektoren Chemie, Textilien, Elektronik, Elektrotechnik und Transportausrüstung in der Lage sein, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern und ihre Ausfuhren zu steigern.Die makroökonomischen Fundamentaldaten sprechen für eine steigende Wirtschaftsleistung. Stärken des Landes sind seine Demografie mit einem im Vergleich zum Westen großen Anteil junger Menschen, der Trend zur Urbanisierung sowie eine wachsende Mittelschicht. Zusätzlich sollten weitere, neuere Aspekte die Investitionsmöglichkeiten im Lande weiter beschleunigen: Indische Unternehmen haben ihre Verschuldung abgebaut und verfügen nun über solide Bilanzen, die Banken haben genug Eigenkapital, und die Regierung hat Lücken im Immobiliensektor geschlossen. Künftige politische Bemühungen sollten sich auf Neuinvestitionen in neuere Sektoren und Branchen konzentrieren und die Unternehmensinvestitionen ankurbeln.Kurzfristig hat Indien seit der vollständigen Wiedereröffnung des Landes nach Corona ein starkes Wachstum zu verzeichnen, wobei die Inlandsnachfrage und die privaten Investitionen den Aufschwung stützen. Die Inflation schwankt weiterhin stark, insbesondere aufgrund der Lebensmittelkomponente. Doch Vieles spricht für eine niedrigere Inflation in der Zukunft. So hat die Reserve Bank of India (RBI) ihren derzeitigen Straffungszyklus beendet, und das Land arbeitet weiterhin an einer Konsolidierung seines Haushalts. Im Vergleich zu den Zielen vor der Pandemie hat sich das Tempo verlangsamt, aber die Verpflichtung auf ein Defizitziel von 4,5 % bis 2026 laut RBI wurde aufrechterhalten.Ein wichtiges Wachstumssegment ist der Bereich grüne Energie. Die Ankündigung von „Net Zero 2070“ hat Investitionen in Energie einschließlich Elektrofahrzeugen und grüner Energie begünstigt. Politische Initiativen wie die Nationale Logistikpolitik und die Nationale Infrastruktur-Pipeline kommen Unternehmen zugute, die sich auf Infrastruktur konzentrieren.Steigende Steuereinnahmen verschaffen dem Staat Spielraum für Investitionen und stützen das Wirtschaftswachstum zusätzlich. Gerechnet in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sind die Einnahmen inzwischen auf ein Rekordhoch von 18 % gestiegen, trotz einer Senkung des Unternehmenssteuersatzes um 10 %, so berechnet vom Centre for Monitoring Indian Economy. Die Einführung einer elektronischen Mauterhebung führte zudem in den letzten drei Jahren zudem zu einer Versechsfachung der Mauteinnahmen. Überschaubare Risiken – Rohstoffe als SchwachpunktBei allen guten Nachrichten sollten Anleger ein paar Risiken nicht aus den Augen verlieren:
- Rohstoffe: Indien ist Energie-Nettoimporteur – Rohstoffe sind damit eine der Schwachstellen des Landes. Schwankungen bei den Rohstoffpreisen können die makroökonomische Stabilität in Frage stellen.
- Politische Risiken: Trotz der steigenden Nachfrage nach größeren Wohlfahrtsmaßnahmen nach Corona hat die indische Zentralregierung der Populismus-Versuchung widerstanden. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Bereitstellung des Nötigsten. Dazu gehören etwa medizinische Versorgung, kostenlose Impfungen und Nahrungsmittel. Sollte allerdings die derzeitige Regierungspartei (BJP) ihr starkes politisches Mandat verlieren, so könnte sie ihre Politik in den nächsten Jahren ändern.
- Beschäftigung: Damit Indien seine demografische Dividende wirklich ausschöpfen und die soziale Stabilität aufrechterhalten kann, sind die Entwicklung von Fähigkeiten und die Schaffung neuer Arbeitsplätze von entscheidender Bedeutung. Hier bleibt aktuell noch viel zu tun.
- Globales Risiko: Die künftigen wirtschaftlichen Aussichten Indiens werden maßgeblich von der Entwicklung der Weltpolitik und des weltweiten Wirtschaftswachstums geprägt sein.
- Übergangsrisiko: Das unkoordinierte Ziel Indiens, bis 2070 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, könnte zu drastischeren und wachstumshemmenden Maßnahmen führen, wenn negative Klimaereignisse dazu verleiten sollten.
Der Weg zu indischen Anleihen und AktienAusländischen Anlegern, die sich in Indien engagieren wollen, bieten sich mehrere Möglichkeiten. Die Renditen für festverzinsliche Wertpapiere bleiben sowohl relativ als auch absolut gesehen attraktiv. Im Anleihemarkt ist die Fully Accessible Route (FAR) nach wie vor die beste Möglichkeit, um in indische Staatspapiere zu investieren, während sich die Voluntary Retention Route (VRR) für Investitionen in Unternehmensanleihen anbietet. Der indische Markt für grüne Anleihen wächst ebenfalls schnell und umfasst Organisationen des öffentlichen Sektors, staatliche Geschäftsbanken, Unternehmen und den Bankensektor. Das Volumen beträgt bislang 7,45 Milliarden US-Dollar gemäß Daten der Climate Bonds Initiative.Auch auf der Aktienseite ist Indiens langfristige Wachstumsstory attraktiv. In den vergangenen zwei Jahren hat das Land die globalen Aktienmärkte deutlich übertroffen, und seine Performance gegenüber den Benchmarks für Schwellenländer war sogar noch ausgeprägter. Infolgedessen stieg Indiens Bewertungsprämie gegenüber den Schwellenländern auf ein Rekordniveau. In letzter Zeit hat sie sich jedoch aufgrund schwacher Performance wieder normalisiert und scheint nun rasch auf historische Durchschnittswerte zu sinken. Auch die Währungsrisiken sind auf dem Rückmarsch. Die indische Rupie scheint nun stabiler zu sein und kann in einem Umfeld der Dollarschwäche profitieren. Trotz der Unsicherheiten könnte 2023 ein besseres Jahr für die Rupie werden als 2022.Quelleninformationen und weitere Angaben finden Sie im aktuellen Thematic Paper sowie im Amundi Research Center.
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